Was Dich hier erwartet:
Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Unter normalen Umständen hätte ich mich nie mit Anleihen beschäftigt, deren Fälligkeit ich nicht erleben werde. Und genau das ist mit 100-jährigen Anleihen der Fall. Sie sind in den letzten Jahren während der Niedrigzinsphase emittiert worden und z.B. im Jahr 2121 fällig. Ihre Laufzeit beträgt also noch 97 oder 98 Jahre.
Ich konnte bei ihrer Emission nicht verstehen, warum ein Investor einem Staat für so einen langen Zeitraum für einen vergleichsweise niedrigen Coupon Geld leiht. Aber die Emissionen konnten platziert werden und es waren vor allem Versicherungen, die damit ihr Kapital anlegten und so den Garantiezins für Lebensversicherungen abdeckten.
Eine Zeit lang waren diese Anleihen dann sogar deutlich im Plus, denn es herrschten ja überall Negativzinsen. Mit den Zinserhöhungen der Notenbanken kam dann ihr jäher Fall. Und aktuell sind die 100-jährigen Anleihen deutlich unter Parität zu erwerben.
Warum ich sie nun für eine interessante Beimischung in meinem Depot halte, erfährst Du in diesem Beitrag. Und ich beschreibe die Funktionsweise von Anleihen, damit Du Dir auch als Einsteiger in dieses Genre ein Bild von meinen Überlegungen machen kannst.
Wie funktionieren Anleihen?
Eine Anleihe hat einen Nennwert, einen Coupon und eine Laufzeit. Sie notiert in Prozent. Die meisten für Privatanleger kaufbaren Anleihen haben einen Nennwert von 1.000 €. Wenn der Emittent bis dahin nicht pleite ist, zahlt er diesen Nennwert am Ende der Laufzeit an denjenigen, der dann Inhaber der Anleihe ist. Während der Laufzeit zahlt er den Coupon, im Regelfall ist das ein fester Zinssatz über die gesamte Laufzeit. Der Coupon berechnet sich ebenfalls auf den Nennwert.
Das läuft dann z.B. so ab, dass eine Anleihe mit 1.000 € Nennwert, einem Coupon von 3% und 10 Jahren Laufzeit emittiert wird. Im Normalfall entspricht der Coupon ungefähr dem Marktzins zum Emissionszeitpunkt und die Emission erfolgt zu 100% (die Besonderheiten der tatsächlichen Preisbildung sind hier nicht relevant).
Der Investor kauft damit für 1.000 € die Anleihe und erhält 10 Jahre lang zu einem festen Termin jeweils 30 € Zinsen. Nach den 10 Jahren erhält er die 1.000 € zurück.
Wie sich der Kurs während der Laufzeit verändern kann
Das Spannende an Anleihen passiert während der Laufzeit. Denn der Kurs der Anleihe reagiert auf Veränderungen. Entweder bei Veränderungen der Zinslandschaft oder aber auch bei der Bonität des Emittenten, wenn also Zweifel an der Rückzahlung entstehen. Aber genauso auch in der Gegenrichtung, wenn die Rückzahlung wahrscheinlicher wird. Wird z.B. eine Anleihe von einem schwachen Unternehmen ausgegeben und muss es deshalb zu Beginn einen hohen Zinssatz anbieten, dann bleibt dieser Zinssatz (Coupon) ja bestehen. Auch z.B. nach einer Übernahme des Emittenten durch ein stärkeres Unternehmen. Der prozentuale Kurs der Anleihe würde dann steigen.
Durch die prozentuale Kursberechnung lässt sich die Rendite einer Anleihe anpassen. Steigt der Kurs der obigen Anleihe z.B. auf 110%, dann wäre der Coupon (3,0%) nur noch einen Zinssatz von 2,72% „wert“. Tatsächlich ist er aber noch niedriger, da die Rückzahlung ja zu 100% erfolgt und sich die 10% Kursaufschlag über die Restlaufzeit abbauen. Liegt sie z.B. bei 5 Jahren, würde das 2% Abschlag pro Jahr bedeuten. Die Rendite dieser Anleihe läge deshalb nur noch bei 0,72% (vereinfacht gerechnet).
Das führte dazu, dass im Negativzinsumfeld die meisten älteren Anleihen von Schuldner guter Bonität über 100% notierten. Einfach weil sie einen vergleichsweise hohen Coupon hatten und er dann durch den hohen Kurs auf das aktuelle Marktniveau gebracht wurde.
Auch wenn das früher kaum vorstellbar war, aber es gab sogar Notierungen oberhalb von 200%. Käufer zahlten also den doppelten Nennwert, um mit den hohen Coupons im Ergebnis dann doch nur den Marktzins zu erhalten.
Nachdem der Marktzins aber nun so stark gestiegen ist, sind noch viele Anleihen auf dem Kurszettel, die sehr niedrige Coupons haben. Um das auszugleichen, ist der prozentuale Kurs aktuell entsprechend niedrig.
Auch dazu ein Beispiel: Eine Anleihe wurde vor 2 Jahren mit einem Coupon von 0,5% und einer Laufzeit von 10 Jahren emittiert. Der Marktzins liegt jetzt beispielhaft bei 4,5%. Der Kurs dieser Anleihe wird dann (zumindest holzschnittartig) so sein, dass die Differenz von 4% zwischen dem Markzins und dem Coupon mit der Restlaufzeit von 8 Jahren multipliziert wird. Der heutige Käufer hätte also 32% Verlust, wenn er den vollen Nennwert bezahlen würde. Um das zu vermeiden, liegt der Kurs deshalb bei rund 68%.
Besonderheiten in der Praxis
So jedenfalls die Theorie. In der Praxis gibt es natürlich noch weitere Faktoren, die den Kurs beeinflussen. Wichtig ist vor allem der Spread, der Unterschied zwischen Geld- und Briefkurs. Er kann bei Anleihen sehr hoch sein. Vor allem dann, wenn es sich um etwas exotischere Anleihen handelt. Denn die meisten Anleihen werden immer noch von institutionellen Anlegern zur Emission gekauft und dann bis zur Fälligkeit im Bestand gehalten. Und damit findet nur wenig Umsatz mit diesen Anleihen statt. Und deshalb gibt es nicht „den Preis“, sondern nur ein Kauf- und ein Verkaufsangebot des Maklers.
Und es gibt noch einen wesentlichen Unterschied zu Aktien. Da bist Du es ja gewohnt, dass es ausreicht, die Aktie am Tag vor dem exDividende-Termin (bei deutschen Aktien in der Regel die Hauptversammlung) zu halten, um dann die Dividende für ein ganzes Jahr zu bekommen.
Anleihen werden hingegen mit Stückzinsen gehandelt. Sie werden täglich berechnet und dem Käufer einer Anleihe zusätzlich zum Kurswert belastet. Gleichzeitig erhält der Verkäufer eben auch diese Stückzinsen. Sie werden vom Coupon berechnet und hängen in ihrer Höhe eben davon ab, wann der letzte Zinstermin war. Wird der Zins z.B. im Januar bezahlt, dann sind die Stückzinsen im Februar noch kaum spürbar, im Dezember aber schon fast so hoch wie die Zinsen eines Jahres.
Die Stückzinsen bieten auch Möglichkeiten, damit womöglich noch etwas Steuern zu sparen oder Einkünfte ins Folgejahr zu verschieben. Aber das nur am Rande und würde hier den Rahmen sprengen. Wenn der Zinstermin noch im laufenden Kalenderjahr liegt, dann werden die gezahlten Stückzinsen steuerlich einfach mit den Zinsen verrechnet und es gibt sonst keine weiteren Besonderheiten.
Warum jetzt 100-jährige Anleihen interessant sind
Die Zinsen sind inzwischen auf einem Niveau angekommen, bei dem der Markt die Wahrscheinlichkeit groß sieht, dass es eher wieder zu Zinssenkungen kommen wird. Klar, im historischen Vergleich hatten wir schon viel höhere Zinssätze. Aber sie müssen immer auch in Relation zur Konjunktur und Inflation gesehen werden. Und da würden noch höhere Zinsen wohl eher dazu führen, dass das zarte Pflänzchen Konjunktur abgewürgt würde.
Ich persönlich teile diese Einschätzung und gehe einerseits davon aus, dass die Zinsen nicht mehr wesentlich steigen werden und wir in den nächsten zwei Jahren wieder Zinssenkungen der EZB erleben werden.
Eine Rückkehr zu Negativzinsen sehe ich dabei nicht. Gemessen am Leitzins bieten aber auch 4,25% oder 4,5% perspektivisch genügend Spielraum für Senkungen. Und wenn es nur wieder auf 3,0% runter geht. Über einen längeren Zeitraum natürlich – und im Einklang mit einer Abschwächung der Inflation.
Anleihen gelten üblicherweise als ideale Ergänzung eines Aktiendepots. Sie sorgen durch ihre Zinsen für kalkulierbare Erträge und stabilisieren das Depot. Und in der Theorie korrelieren sie nicht mit Aktien. So sollen Anleihen dann profitieren, wenn Ängste am Aktienmarkt Überhand nehmen.
Unter diesem Aspekt kann es sinnvoll sein, sich ein Portfolio von Anleihen aufzubauen. Auch wenn Anleihen in 2022 noch höhere Verluste als Aktien zeigten. Denn die Phase der Renditeanstiege – gleichbedeutend mit Kursverlusten der Anleihen – sollte jetzt ihr Ende gefunden haben und die laufenden Renditen sind auch wieder spürbar positiv.
Für diese Zwecke habe ich 100-jährige Anleihen allerdings nicht in den Blick genommen. Mich interessieren vor allem die Chancen, die sich aus Zinssenkungen auf die Kurse ergeben. Denn die ultralange Laufzeit wirkt hier wie ein großer Hebel auf die Kurse.
Auch dazu wieder ein Beispiel: Wir vergleichen 5 fiktive Anleihen mit gleichem Coupon und unterschiedlichen Laufzeiten. Sie haben einen Coupon von 4,5% und notieren fiktiv bei 100%. Sinkt der Marktzins um 150 Basispunkte (also auf 3,0%), dann verändert sich der Kurs – wieder Pi mal Daumen – wie folgt:
Restlaufzeit 3 Jahre: +4,5%
Restlaufzeit 5 Jahre: +7,5%
Restlaufzeit 10 Jahre: +15%
Restlaufzeit 30 Jahre: +45%
Restlaufzeit 100 Jahre: +150%
Wie gesagt, die tatsächliche Berechnung ist komplexer. Aber die Relationen sind genau so. Aus diesem Grund haben die 100-jährigen Anleihen in den letzten Monaten erheblich im Kurs eingebüßt und Kurzläufer vergleichsweise wenig. Entsprechend umgekehrt ist das Kurspotenzial bei einer Zinswende.
Welche 100-jährigen Anleihen gibt es überhaupt?
Ich habe die Suche nach geeigneten Anleihen direkt eingegrenzt. Zunächst einmal kommen für mich ohnehin nur Anleihen mit einer Stückelung von 1.000 € Nennwert in Betracht. Bei 100.000 € Nennwert bin ich raus. Ebenso möchte ich im Euroraum bleiben. Mir geht es nur darum, von einem Zinsrückgang zu profitieren. Ich will dabei keine Währungsrisiken haben. Und auch keine Unternehmensrisiken. Mit diesen Kriterien gibt es dann nur noch 2 Emittenten, die 100-jährige Anleihen ausgegeben haben: die Republik Österreich und das Bundesland Nordrhein-Westfalen. Beide gelten am Kapitalmarkt als erstklassige Schuldner. Österreich verfügt über ein „AA+“-Rating, das ist die zweithöchste Einstufung. Nordrhein-Westfalen ist mit „AA“ eine Stufe schwächer, aber immer noch auf einem sehr guten Niveau. Das letzte Rating wurde im Februar 2023 von S&P veröffentlicht (hier). Der Unterschied zeigt sich in den leicht höheren Renditen für die NRW-Anleihen.
Zur Auswahl stehen nach meinen Kriterien:
| WKN | Emittent | Zins | Fälligkeit | Kurs* | lfd. Verzinsung |
|---|---|---|---|---|---|
| A19PCG | Österreich | 2,1% | 20.9.2117 | 68,15% | 3,08% |
| A28Y97 | Österreich | 0,85% | 30.6.2120 | 39,92% | 2,13% |
| NRW0LQ | NRW | 2,15% | 21.3.2119 | 65,99% | 3,26% |
| NRW0L1 | NRW | 1,375% | 15.1.2120 | 47,04% | 2,92% |
| NRW0MP | NRW | 0,95% | 10.1.2121 | 37,15% | 2,56% |
| NRW0M9 | NRW | 1,45% | 19.1.2122 | 47,53% | 3,05% |
Kein Tagesgeldersatz!
An der laufenden Verzinsung (das ist der Zins geteilt durch den Kurs) siehst Du, dass diese Werte gar nicht so unattraktiv sind. Jedenfalls verglichen mit früheren Zeiten und den Tagesgeldzinsen, mit denen uns viele Banken immer noch abspeisen. Du solltest Dich davon aber nicht blenden lassen. Denn eine solche Anleihe ist mit Tagesgeld wirklich nicht vergleichbar.
Du hast ein Kursrisiko – bei weiter steigenden Zinsen werden die Kurse der Anleihen noch weiter sinken! Außerdem besteht das Risiko, dass es zu einer Ratingabstufung kommt. Auch das würde Druck auf den Kurs verursachen.
Dein Geld ist nicht sofort verfügbar. Du musst erst einen Käufer finden, der Dir Deine Anleihe abkauft, wenn Du an Dein Geld willst. Und dann erhältst Du in der Regel nur den niedrigeren Geldkurs und könntest einen Verlust erzielen. Das kann Dir bei Tagesgeld nicht passieren.
Es ist eine Spekulation
Ein Investment in eine oder mehrere der 100-jährigen Anleihen ist, so klar muss ich es benennen, eine Spekulation. Sinn macht das nur, wenn Du an sinkende Zinsen glaubst. Dann kann ein solches Investment zum Renditehammer werden. Bleiben die Zinsen aber konstant oder steigen weiter, dann hast Du zwar die laufende Verzinsung, sitzt aber wahrscheinlich langfristig auf Kursverlusten.
Mit einer entspannten Geldanlage zur Diversifikation und Risikoreduzierung Deines Portfolios hat ein solches Investment nichts zu tun.
Meine Motivation
Ich habe eine erste Position in der NRW-Anleihe NRW0MP eröffnet. Es ist die Anleihe mit dem niedrigsten Kurs, aber auch einer niedrigen laufenden Verzinsung. Schon eine leichte Zinssenkung sollte bei ihr zu einem deutlichen Kursgewinn führen. Deshalb habe ich sie ausgewählt. Ich habe allerdings auch bei den anderen Anleihen Limite im Markt und möchte insgesamt in einem ersten Schritt nominal 10.000 € in diesem Sektor anlegen. Das wäre ein Investment von unter 5.000 € und würde ungefähr 1% des Volumens meiner Aktiendepots entsprechen.

Mit diesem begrenzten Einsatz macht es mir auf der einen Seite Spaß, die Zinsentwicklung zu beobachten. Auf der anderen Seite habe ich das Potenzial auf eine zweistellige Rendite p.a. in den nächsten Jahren. Ich setze dabei nicht darauf, dass die Anleihen irgendwann wieder bei 100% notieren. Würde aber die von mir schon gekaufte NRW-Anleihe durch entsprechende Zinssenkungen einfach nur von 37% auf 50% steigen, dann wäre das ja bereits ein Kursgewinn von 35%.
In einem zweiten Schritt kann ich mir dann auch vorstellen, den Einsatz noch einmal zu erhöhen. Das würde ich dann angehen, wenn die EZB wirklich mit Leitzinssenkungen beginnt. Dann werden zwar die Kurse der 100-jährigen Anleihen schon höher stehen, es sollte aber auch dann noch Aufwärtspotenzial geben.
Keine Anlageberatung
Es nervt Dich vielleicht schon, dass Du überall und immer wieder davon liest, dass es sich bei einem Beitrag um keine Anlageberatung oder Investmentempfehlung handelt. Leider ist dieser Hinweis immer wieder nötig, denn zu viele Leserinnen und Leser kommen über Google auf meinen Blog, lesen etwas, was sie überzeugend finden und kaufen dann einfach nach. Das ist nicht gut! Meine Texte stellen Anregungen dar, sich mit einem Investment zu beschäftigen. Und dann eine eigene Meinung zu bilden. Ich selbst lese unheimlich viel und bin dann oft auch sofort begeistert. Aber dann fängt für mich die Arbeit erst an. Dann starten meine eigenen Recherchen und in der Regel kommen dann die ganzen Schatten zum Vorschein und meine Begeisterung ist verflogen. In diesem lesenswerten Beitrag habe ich das einmal ausführlich beschrieben.


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